Ganz schön herbe

Die Welt hat einen lange verrufenen Geschmack wiederentdeckt. Über das große Comeback der Bitterkeit.

Endlich mal keine süße Versuchung. Radicchio, Bitter Lemon und Brokkoli sind eine willkommene Abwechslung für die Geschmacksknospen im Mund.

Foto: Maurizio Di Iorio

Grünkohl gehört nicht gerade zu den Lebensmitteln, denen man gemeinhin eine internationale Karriere zugetraut hätte, aber jetzt isst ihn alle Welt. In den USA trinkt man ihn sogar, klein gemixt in Smoothies, ein Trend, der sich in Europa nicht so richtig durchgesetzt hat. Global lässt sich der Karriereschub des Kohls wie folgt beziffern: Der weltweite Kohl-Verkauf stieg im Jahr 2014 um 54 Prozent – und dann bis 2017 nochmals um 150 Prozent. Diese Zahlen hat das englische Marktforschungsinstitut Kantar Worldpanel ermittelt, und das Institut stellt auch einen erhöhten Verbrauch von anderen alten, bitteren Gemüsesorten fest: Wildbrokkoli und Chicorée, Wildkräuter, Brennnesselblätter, Löwenzahn und Sanddorn.

Noch mehr bittere Triumphe: Der Kaffeeverbrauch stieg drei Jahre hintereinander kontinuierlich um jeweils 2,3 Prozent. Andrea Illy, Verwaltungsratsvorsitzender der italienischen Marke Illy, geht davon aus, dass die Nachfrage im Jahr 2025 um fünfzig Millionen Säcke höher sein wird als heute, das wäre etwa die gesamte Jahreskaffeeernte Brasiliens. Der Absatz von Tee steigt ebenfalls. Der Hamburger Hersteller Lemonaid meldet pro Jahr zweistellige Umsatzsteigerungen. Insbesondere herb-bitterer Mate-Tee hat auf Musikfestivals bei jungen Menschen süße Konkurrenzprodukte anderer Marken abgelöst. Die Welt trinkt auch immer mehr Old Fashioned und Negroni, die zwei meistverlangten Cocktails, die mit viel Bitters gemixt werden. Das hat eine Umfrage eines Barkeepermagazins in den führenden Metropolen ergeben. Alte Kräuterlikörmarken wie Cynar haben neue Kundschaft gefunden. Kräuterbitter wie Fernet, Unicum, Averna erleben ein Comeback. Im vergangenen Jahrhundert hatte als Würz-Bitter nur Angostura die Prohibition überlebt, seit dem Jahr 2000 sind etliche neue Marken entstanden, sogar Würzbitter mit dem Geschmack von Roter Bete oder Sellerie. Ein paar Tropfen eines Bitters braucht man für wiederentdeckte Cocktails wie Old Fashioned und Manhattan.

Bittere Noten

Die Quitte eignet sich für
Marmelade, Kompott, Saft, Gelee, Wein, Schnaps.

Sanddorn wird wegen des hohen Vitamin-C-Gehaltes auch in der Medizin genutzt.

Kaffee trinkt man in Äthiopien seit dem 9. Jahrhundert.

Illustrationen: Danilo Agutoli

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Die Welt wird bitter? »Ja. Stimmt. In der Spitzengastronomie ist das längst passiert«, sagt Daniel Achilles, Sternekoch im Restaurant »Reinstoff« in Berlin. Die Nordic Cuisine und nach ihr die regionale Küche haben die herben, bitteren Noten wiederentdeckt. ­Neben der Grünkohl-Mode bedeutet das die Rückkehr von Kräutern wie Sauerampfer, Wiesenklee, Sanddorn und der herb-säuerlichen Eberesche. »Die finde ich besonders spannend. Wenn man in frische Eberesche beißt, schmeckt sie gallebitter, gedünstet wird sie herb-säuerlich, und das passt super zu Fisch und Wildgeflügel«, sagt Achilles. Er kocht Fonds mit Eberesche oder setzt kleine, nussig-erdige Cremekleckse davon auf den Teller. Und weil Kohl mittlerweile das ganze Jahr über verlangt wird, mixt er im Winter eine Gremolata aus Schwarzkohl, Zitronensaft und Zitronenschale, Kapern, Mammut-oliven, Leinöl, Salz, Pfeffer und einer Prise Zucker.

Analog zur Bewegung, das ganze Tier vom Huf bis zum Schwanz zu verwerten, gibt es den Trend »Leaf to root«: vom Blatt bis zur Wurzel. In den Blättern und Wurzeln sitzen die Bitterstoffe der Pflanzen. Daniel Achilles experimentiert auch mit Rapsknospen und Blütenstängeln von wild wachsendem Sanddorn, den ihm ein Förster aus Mecklenburg-Vorpommern bringt. Eberesche bezieht er aus Franken.

Manchmal ist bitter die perfekte Ergänzung zu süß: Achilles’ Lieblingsdessert ist Japanische Zierquitte – »bei Quitten stellt sich allerdings gleich die Frage nach dem Unterschied zwischen sauer und bitter, es liegt beides ja ganz nah zusammen«. Auch die thailändische Küchenchefin Dalad Kambhu im Berliner Szenerestaurant »Kin Dee« verwendet das bittere Gewürz Sadao nur in Kom­bination mit süßlicher Tamarinde. Dalad Kambhu sagt: »Schon meine Mutter hat Fischsaucen mit dieser süß-bitteren Mischung gemacht. Sadao bekommen Sie in jedem Asia-Markt. Seit Neuestem weiß man auch, wie gesund das Gewürz ist.«

Süße Vollmilch isst sich schneller weg als Schokolade mit hohem Kakaoanteil

Bitter tut dem Körper tatsächlich oft gut. Heilpflanzen wie Löwenzahn, Wermut, Lieb­stöckel, Hopfen und Enzian sollen Infektionskrankheiten im Anfangsstadium bekämpfen können. Manche Sportler nehmen regelmäßig Extrakte aus der Eberraute. Die Blätter gelten als verdauungsfördernd und als Essbremse. Bitterreize regen das Immunsystem an, Süßreize bremsen es eher aus. Man isst vom Bitteren weniger, und das Gefühl, satt zu sein, hält fast doppelt so lange. Das gilt auch für Schokolade: Süße Vollmilch isst sich schneller weg als eine Tafel mit hohem Kakaoanteil.

Kleinkinder reagieren auf bitteren Geschmack häufig mit Abscheu. Der Reflex ist sinnvoll: Auch viele Giftstoffe sind von Natur aus bitter. Der Mensch muss lernen, wie viel Bitteres ihm bekommt und auch schmeckt. Im Jahr 2015 vergiftete sich ein 79-jähriger Rentner aus Heidenheim an einer Portion selbst gezogener, hochbitterer Zucchini – und starb. Sein Nachbar hatte ihm und seiner Frau Zucchini aus seinem Garten geschenkt. Die Ehefrau aß ihre Portion Zucchini-Eintopf nicht auf, er war ihr zu bitter. Ihr Mann wollte höflich sein. Vielleicht lag es an seinem Alter, dass die 25 Bitterrezeptoren auf der Zunge keinen Würgereiz auslösten, so wie bei den meisten Menschen, die zu Bitteres essen.

Bittere Noten

Eberesche/Vogelbeere:
hilft bei Husten, Magenver-stimmungen, Hämorrhoiden, Rheuma, Gicht.

Negroni soll ein probates Mittel gegen Liebeskummer sein.

Braunkohl/Grünkohl
kann man jetzt auch kurz blanchiert im Salat oder als Chips essen.

Illustrationen: Danilo Agutoli

Menschen bevorzugen eigentlich einfache, zugänglichere Geschmacksrichtungen: salzig, fett, süß. Die Lebensmittelindustrie hat darauf vor langer Zeit reagiert und den herben Geschmack aus vielen Lebensmitteln herausgezüchtet: Das dominante Gen für die Produktion von Cucurbitacin wurde eliminiert. Spargelsorten verloren ihren feinherben Geschmack. Aus Chicorée, Gurken und vielen Kürbisgewächsen, zu denen auch Zucchini gehören, wurden die Gene mit den Bitternoten herausgezüchtet. Selbst Grapefruits, deren Charakteristikum der bittere Geschmack ist, wurden in immer süßeren Varianten gezüchtet. Aber die Zucchini werden nun wieder bitter statt süß, auch beim Spargel oder Kürbis vollzieht sich eine Kehrtwende. Bitter ist das heftigste, intensivste Geschmacks­erlebnis.

Dafür haben mehrere Entwicklungen in­einander gegriffen. Die Menschen reisen immer mehr; der Massentourismus, besonders die Fernreisen haben Menschen an die Geschmäcker fremder Küchen herangeführt. Bitter, scharf, auch umami verloren so ihren Schrecken. Die Entdeckung exotischer Gerichte gilt sogar als Hauptmotiv vieler Fernreisender. Die Globalisierung des Welthandels sorgte dann dafür, dass derlei Lebensmittel auch im Westen erhältlich sind. Seit etwa zehn Jahren entdecken die Menschen zudem alte Gemüsesorten wieder. Und sowieso wollen viele Menschen gesund essen – und so wenden sie sich vom süß-salzigen Fastfood ab und lassen sich auf Experimente ein, die ihnen eine sinnvolle Ernährung verheißen. Was aussieht und schmeckt wie etwas, was man früher aufessen musste, um sich das Recht auf den Nachtisch zu erarbeiten – was könnte gesünder wirken? Und wer einmal auf den Bitter-Geschmack gekommen ist, den lässt er nicht mehr los.

Die Zucchini werden wieder bitter statt süß, auch beim Spargel oder Kürbis vollzieht sich eine Kehrtwende

Italien hatte all diese Faktoren nicht nötig. Unabhängig von Fernreisen, Globalisierung und Gesundheitsbewusstsein blieb das Land auch dann eine Enklave des bitteren Geschmacks, als Fastfood andernorts die tradi­tionellen Lebensmittel verdrängte. Gemüse wie Radicchio und Drinks wie Campari oder Vermouth waren aus der italienischen Kultur nicht wegzudenken. Kinder sind dort von klein auf eine bittere Note im Essen gewohnt. Jugendliche in Turin und Mailand trinken Chinotto, ein Getränk, das wie Cola aussieht, aber nicht süß ist. Jede italienische Großstadt kennt ihren eigenen lokalen Amaro und ihre eigene bittere Limonade. Seitdem bitter der Geschmack der Stunde ist, wagen sich Ra­dicchio, Endivien, Rosenkohl, Artischocken wieder aus Italien nach Europa.

Manche Köche zähmen die Bitterstoffe dann noch und weichen Radicchio oder Endivien 24 Stunden lang in Eiswasser ein. Das Wasser schmeckt danach wie ein Cam­pari – nur ohne Alkohol.