Ich hätte alles gebraucht, außer ein Pfefferspray

Als Jugendliche bekommt unsere Autorin ein Pfefferspray geschenkt, um sich gegen sexuelle Übergriffe wehren zu können. Jahre später weiß sie: Vor vielen grenzüberschreitenden Erfahrungen, die junge Frauen erleben, könnte so ein Spray nie schützen. Andere Dinge wären viel wichtiger.

Foto: Ali Ali/laif

Ich bekam es mit 15, nahezu kommentarlos von meinen Eltern: mein erstes Pfefferspray. »Pack’s in die Tasche«, hieß es nur. Ich weiß noch, dass ich mich damals richtig erwachsen fühlte. Hieß das etwa, ich war jetzt eine Frau? Hieß das etwa, ich war jetzt für Männer attraktiv? Heute ist mir das peinlich. Damals steckte ich mitten in der Pubertät und freute mich darüber, als Frau anerkannt zu werden. Denn so wurde es mir vermittelt – in den Filmen, die ich zu sehen bekam, in den Erwachsenengesprächen, die ich verfolgte, in den Zeitschriften, die meine Freundinnen und ich am Kiosk kaufen durften: Begehrt zu werden, Männern zu gefallen, ist ein wichtiger Teil des Frauseins.

Die Übergabe des Pfeffersprays: ein symbolischer Akt, ein Initiationsritus in – ja, in was eigentlich? In die reelle Gefahr, Opfer sexueller Übergriffe zu werden? Welche Gefahren es gibt, wie komplex sie sein können und wie ich mich dadurch fühlen würde, darüber sprach niemand mit mir. Nicht in der Schule, nicht zuhause, nicht im Verein, nirgends. Mit der Übergabe des Pfeffersprays schien das Thema sexuelle Übergriffe vom Tisch zu sein – und ich geschützt. Nicht, dass ich überhaupt gewusst hätte, wie ich das Teil im Ernstfall hätte einsetzen sollen. Die kleine gelbe Sprühflasche lag unangetastet in meiner Tasche, bis ich sie etliche Jahre später beim Ausmisten in den Müll warf. Das heißt, es ist nie etwas Schlimmes passiert – oder?

Letztens fragte mich der Vater einer 15-Jährigen: »Soll ich ihr ein Pfefferspray kaufen?« Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte, und zuckte mit den Schultern. Die Runde am Tisch nahm den Gesprächsfetzen sofort auf. Wir sprachen darüber, welche Situationen ich oder mir bekannte Frauen schon erlebt hatten: »Unglaublich«, »Das kann ja gar nicht sein«, »Dass Leute sowas tun«. Es könne sich ja nur um Einzelfälle handeln. Das waren die Reaktionen der Männer am Tisch. Die Unterhaltung ließ mich nicht los. Ich grübelte. Dachte darüber nach, wie über sexualisierte Gewalt gedacht und gesprochen wird. Ich sprach mit anderen Frauen darüber. Fragte, ob sie als Jugendliche auch ein Pfefferspray bekommen hatten. Alle hatten sie das – manche haben es sogar noch. Benutzt hatte es bis dato allerdings keine davon. Einige waren als Mädchen auch zum Kampfsport geschickt worden, zum Kickboxen oder so. In meinem Fall war es Wing Tsun. Angewendet habe ich diese Fähigkeiten nie – sofern ich sie überhaupt je hatte. Keine von uns hat das. Wir wussten nicht, was wir damit anfangen sollten.

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Heißt das, wir sind von Übergriffen verschont geblieben? Sehen wir uns mal an, wovon wir jungen Frauen uns gegenseitig berichteten. Jungs in der Schule, die sich einen Spaß daraus machten, einem Mädchen Papierkügelchen in den Ausschnitt zu werfen: Wer am häufigsten trifft, gewinnt. Dazu der Kommentar: »Du lässt uns ja keine Wahl, wenn du sowas anziehst.« Was hätten wir da gebraucht? Pfefferspray. Ganz klar. Der Kumpel, der beim Ausgehen eine vorbeigehende Frau kommentiert: »Der Arsch ist aber auch ganz schön geil.« Was wäre hier das Mittel der Wahl? Roundhouse Kick. Ganz sicher. Der Kollege, der sagt: »So kannst du mich nicht anschauen, sonst will ich dich am liebsten da hinten im Eck ficken.« Was hätten wir da gebraucht? Krav Maga. Klare Sache. Der betrunkene Gastvater beim Schulaustausch, der auf der Familienfeier im Restaurant unterm Tisch mit seiner Hand unter deinen Rock fährt. Pfefferspray? Der junge Mann, den man auf Tinder kennengelernt hat, mit dem man ein bisschen rumgeknutscht hat und der einem nach einem »Nein« vorwirft: »Du kannst mich nicht so anmachen und dann sagen, ich soll aufhören.« Was hätte da wohl geholfen?

Wovor könnte ein Pfefferspray denn überhaupt schützen? Vielleicht vor dem unbekannten Bösen, der nachts im Park aus dem Gebüsch springt. Vor der Vergewaltigung durch einen Fremden. Zu viele Menschen setzen die Gefahr, als Frau sexualisierte Gewalt zu erleben, gleich mit diesem Szenario. Deswegen geben sie jungen Frauen Pfefferspray und denken, damit wäre alles gut. Dabei würde es vermutlich nicht mal in dieser Situation helfen. So verschiebt sich nicht nur das Bewusstsein für die Gefahr, sondern auch die Verantwortung für das Problem.

Und wie wehrt eine Frau sich ohne Pfefferspray oder Kampsport-Griffe? Vom Esstisch aufspringen und alle wissen lassen, was der Gastvater gerade unterm Tisch getan hat? Scham. Es sollte seine sein, aber ich fühle sie. Den Jungs in der Schule vor der ganzen Klasse die Stirn bieten? Verunsicherung. Angst, ausgelacht zu werden – lieber weglächeln. Denn das vermittelt die Gesellschaft immer noch Mädchen und heranwachsenden Frauen: bloß nichts tun, was den Mann beschämen könnte. Die Folge: Apathie. Um nicht unangenehme Spannung zu erzeugen, nimmt die Frau Scham und Schuld auf sich und häuft sie in sich an. Und wenn sie davon berichtet, läuft sie Gefahr, für ihre Handlungsunfähigkeit zusätzlich beschämt und verurteilt zu werden. So absurd es eh schon ist, dass wir hier nur über die angemessene Vorbereitung von Frauen sprechen, anstatt die eigentlichen Schuldigen zu verurteilen und zu beschämen.

Gebraucht hätte ich die Versicherung, dass ich nicht diejenige bin, die sich zu schämen hat

Immer wieder höre ich auch Sätze wie: »Aber das war doch als Kompliment gemeint«, oder: »Freu dich doch, dass du bemerkt wirst«. Keine Frau, der auf der Straße hinterhergerufen wird: »Besser gefickt läuft’s besser, wir können’s ja mal ausprobieren«, hat sich jemals gedacht: »Wow! Ein Kompliment, welche Ehre!« Sie geht mit Scham im Bauch nach Hause und fragt sich: Was habe ich getan, dass er glaubt, er dürfte das? Neun von zehn Frauen haben sich laut einer Studie des Instituts für Angewandte Sexualwissenschaft und der Hochschule Merseburg schon einmal verbal belästigt gefühlt. Trotzdem sind solche Kommentare in Deutschland bisher nicht strafbar – zumindest nicht direkt. Den Straftatbestand der verbalen sexuellen Belästigung gibt es nicht, und Äußerungen wie »Ich will dich ficken« oder »Ich will deine Muschi lecken« stuft der Bundesgerichtshof nicht als ehrverletzend ein. Weil: Der Täter habe dem Opfer nicht unterstellt, zu solchen Handlungen bereit zu sein.

Was würde ich antworten, sollte mich heute nochmal jemand fragen: »Soll ich ihr ein Pfefferspray kaufen?« Ich würde sagen: »Ich hätte alles gebraucht, außer ein Pfefferspray.« Ich hätte ein anderes Verständnis von Geschlechterrollen gebraucht. Ich hätte ein anderes Verständnis von Sexismus und sexualisierter Gewalt gebraucht – und ein offeneres Sprechen darüber. Geholfen hätten mir Filme und Serien, die solche Übergriffe nicht verharmlosen oder sogar verherrlichen. Gebraucht hätte ich die Versicherung, dass ich »Nein« sagen darf, auch wenn ich zuvor schonmal »Ja« gesagt habe. Gebraucht hätte ich die Versicherung, dass ich nicht diejenige bin, die sich zu schämen hat. Die Versicherung, dass ich nicht überempfindlich bin, weil mir schlecht wird, wenn ich an solche Situationen zurückdenke. Die Versicherung, dass sie mich wütend machen dürfen. Die hätte ich gebraucht.