Der Text, der sich nicht schreiben lassen wollte

Wenn ein Autor an einem Artikel scheitert, bekommen Leser ihn normalerweise nicht zu Gesicht. Hier ist das anders. Denn manchmal brauchen wir Misserfolge, um weiterzukommen. 

So oder so ähnlich erging es unserem Autor mit den ersten Fassungen dieses Textes.

Foto: getty/Catherine Falls Commercial.

Dieser Text lag schon so oft im Papierkorb, dass ich irgendwann aufgehört habe zu zählen. Ich habe ihn geschrieben, geflucht, mir die Haare gerauft, ihn gelöscht, neu geschrieben und wieder geflucht. Normalerweise erfahren Sie das nicht. Sie sehen am Ende einen veröffentlichten Artikel. Was Sie nicht sehen, sind die unzähligen Ideen, die nie das Licht der lesenden Welt erblicken.

Dieser Text soll anders sein – auch weil es so wunderbar ironisch ist, dass ich an einer Geschichte übers Scheitern so oft gescheitert bin. Als ich mich das erste Mal an diese Kolumne setzte, wollte ich von einem persönlichen Scheitern erzählen. Davon, wie ich vor ein paar Jahren den Garten eines Multimillionärs zerstörte. Wie ich an einem Juninachmittag vor einer Wüste aus toter Erde stand, die kurz zuvor noch die prächtigste private Grünanlage der Stadt gewesen war. Vereinzelte Inseln aus zerfetzten Grasbüscheln waren vom penibel gepflegten Rasen übrig, den ich buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht hatte. Und das nur, weil mein damaliger WG-Mitbewohner und ich einen Gartenservice gründen wollten, aber nicht einmal wussten, wie ein Vertikutierer funktioniert.

Ich wollte schreiben, wie unsere erste Rechnung mit einer Anzeige wegen Vandalismus beantwortet wurde und wir den Gartenservice zu Grabe trugen, weil man schlecht Insolvenz anmelden kann, bevor man überhaupt eine Firma hat.

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Ich meinte, mit diesem Vorfall eine Art Prototyp des Scheiterns gefunden zu haben und wollte in den nächsten Schritten nach Erklärungen und Gegenmitteln suchen. Eine gute Erklärung schienen die amerikanischen Sozialpsychologen David Dunning und Justin Kruger zu liefern. In ihren Studien hatten die beiden festgestellt, dass Menschen ihre Fähigkeiten besonders dann überschätzen, wenn sie wenig Ahnung davon haben, was sie tun. Traut man sich als absoluter Dilettant Großes zu, ist das die perfekte Mischung für ein Desaster. Das nennt sich Dunning-Kruger-Effekt und war sowohl dem Rasen unseres wohlhabenden ersten Kunden als auch unserer Gartenfirma zum Verhängnis geworden – davon war ich überzeugt.

Selbstüberschätzung musste also der Urgrund des Scheiterns sein. Ich schrieb meinen ersten Entwurf und sagte der sogenannten Anfängerblase den Kampf an: Die sorgt dafür, dass man sich nach frühen Lernerfolgen allwissend fühlt, weil man noch nicht überblicken kann, was man alles nicht weiß. Dabei stellt sich eine wichtige Frage: Wann weiß ich genug, um nicht mehr darauf hereinzufallen? Ich fand keine Antwort, und die Redaktion lehnte meinen Text ab.

Also fing ich nochmal von vorne an. Und nochmal. Und dann nochmal. Ich war wie besessen von meiner Idee, dass sich das Scheitern verhindern ließe, wenn wir nur die Selbstüberschätzung in den Griff bekämen. Auf meiner Recherche traf ich auf windige Erfolgscoaches, die Trainingsprogramme anpriesen und auf Esoteriker, die mein Selbstbild mit Hypnose zurechtbiegen wollten. Ich schrieb immer neue Fassungen, wollte aus hundert unbefriedigenden Erklärungen die perfekte Lösung destillieren. Meine Freunde lasen tapfer jeden Entwurf und brachten mir irgendwann schonend bei, dass es aussichtslos sei. Ich warf den Text in den Papierkorb.

Als Kind hatte ich einen Lieblingsbettbezug. Weiches Flanell mit kleinen hellgrünen Herzchen auf weißem Grund. Ich schlief nur in diesem Bezug, ein ganzes Jahr lang. Dann wechselte meine Mutter ihn, weil er sich an den Rändern schon verfärbte und in die Wäsche musste. Ich war außer mir vor Wut, schleuderte das neu bezogene Kopfkissen von mir und verkroch mich heulend in die hinterste Ecke meines Zimmers. So ähnlich fühlte ich mich jetzt mit meiner Geschichte. Sie wollte partout nicht werden, wie ich sie haben wollte. Also pfefferte ich sie in die dunkelste Ecke meines Kopfes und ließ sie dort liegen.

Zwei Monate später leerte ich meinen digitalen Papierkorb und fand den Text wieder. Ich dachte an mein altes Kopfkissen, die erste tiefe Frustration meines Lebens. Ich hatte mich damals nach ein paar Tagen mit meinem neuen Bettbezug versöhnt, er war weich und duftete frisch. Als mein Flanellbezug mit den grünen Herzchen aus der Wäsche zurückkam, freute ich mich. Aber mittlerweile mochte ich auch den anderen und ließ ihn so lange drauf, bis er gewaschen werden musste. Ich zog den Text zurück auf den Desktop.

Einmal noch wollte ich der Selbstüberschätzung an den Kragen. Dabei sollte mir Kay Brauer von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg helfen, der dazu forscht, wie akkurat unsere Persönlichkeitsurteile ausfallen. Einen Tag vor unserem Interview sollte ich ihm ein paar Interview-Fragen zusenden, schob es aber bis zum späten Abend vor mir her. Ich hatte das Gefühl, meine und seine Zeit zu verschwenden und wusste nicht mehr so richtig, was ich eigentlich wissen wollte. Also quälte ich mich zu ein paar floskelhaften Fragen und klappte verdrießlich den Laptop zu. Das Interview am nächsten Morgen lief nicht viel besser. Gleich zu Beginn meinte Brauer, dass er sich mit Selbstüberschätzung nicht wirklich auskenne. Er wolle meine Fragen aber beantworten, so gut es gehe. Ich verzweifelte.

Wieder war ich kurz davor, das Kissen zu werfen. Dieser Text wollte einfach nicht geschrieben werden. Als in meinem Kopf gerade das um seinen Herzchenbezug betrogene Kind zu krähen begann, meinte Brauer, dass er gar nicht verstehe, warum ich es so negativ sähe, wenn man sich hin und wieder überschätzt. Er selbst habe fast die Schule geschmissen, weil er in Mathe grottenschlecht war – und dann Psychologie studiert, ein Fach voller Statistik. »Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet. Hätte auch schiefgehen können«, lächelte Brauer verschmitzt, »ist es aber nicht. Also war’s doch gut, dass ich blauäugig war«.

Einen der stolzesten Momente seines Lebens hätte er ohne eine Prise Größenwahn nie erlebt, erzählte Brauer weiter: »Ich war vierzehn und mitten in der Pubertät. Damals war Dritte Wahl, eine deutsche Punkrock-Band aus Rostock, groß im Kommen. Ich wollte unbedingt auf ein Konzert ihrer Tour, sie traten nämlich in einer größeren Stadt in der Nähe meines Heimatorts auf. Meine Eltern verboten mir aber hinzufahren, weil meine Noten so schlecht waren. Mathematik, Sie wissen schon. Also entschied ich mich, einfach selbst ein Konzert zu veranstalten, obwohl ich nicht den blassesten Schimmer hatte, was das bedeutet.«

»Scheitern ist keine Wand, gegen die wir fahren. Es ist eine Weiche, die uns mal mehr, mal weniger behutsam in die richtige Richtung lenkt«

Psychologe Kay Brauer

Ich musste an ein paar Halbwüchsige denken, die verkleidet als ihre Idole in einer Garage auf E-Gitarren herumquietschen. »Nein, nein«, lachte Brauer, »ich wollte ja Dritte Wahl sehen. Ich suchte mir einen Erwachsenen, der vertragsfähig war, buchte eine kleine Bühne im Gasthaus um die Ecke und rief bei der Band an. Die fanden meine Idee lustig und legten einen extra Tourstopp bei uns ein. Am Ende waren ein paar hundert Menschen aus ganz Deutschland da. Meine Freunde und ich durften als Vorband auftreten. Das hat mir gezeigt, dass ich etwas schaffen kann, auch wenn ich in der Schule dauernd Enttäuschungen erlebte.«

Ich war beeindruckt und ein bisschen gerührt von der Geschichte dieses eben noch so unscheinbaren Psychologen, der mich zu Beginn des Gesprächs verlegen gefragt hatte, ob er sein Frühstücksbrot zu Ende essen könne. Aber es war nun mal absolut nicht das, was ich hören wollte. Ich wollte, dass er mir bescheinigt, mich bei meinem Garten-Massaker hoffnungslos blamiert zu haben und erfahren, wie sich so etwas vermeiden lässt. Ich wollte eine einfache Anleitung gegen die Selbstüberschätzung, ein stinknormales Interview und generische Antworten, die ich in meinen missratenen Text hineinzitieren konnte.

Als könnte er meine Gedanken lesen, grinste Brauer und meinte: »Seien Sie nicht so streng mit sich selbst. Das gehört zum Leben dazu. Selbstüberschätzung lässt sich nicht verhindern, sie ist sogar notwendig, um zu lernen. Irgendjemand musste sich trauen, die erste Operation am offenen Herzen durchführen. Solche Operationen machen wir alle jeden Tag – natürlich weniger folgenreich. Wenn uns etwas gelingt, macht uns das selbstsicher – manchmal sogar ein wenig zu sehr. Misserfolge norden uns wieder ein, so nähern wir uns einer realistischen Einschätzung der eigenen Fähigkeiten an. Das ist der einzige Weg, um richtig zu lernen. Oder haben Sie nach Ihrem botanischen Fiasko noch andere Gärten zerstört?«

Natürlich hatte ich das nicht, wollte aber einwenden, dass ich gerne von vornherein schlauer gewesen wäre. Da fuhr Brauer fort: »Scheitern heißt doch nur, einen anderen Weg zu finden. Der beste Weg, das Scheitern sein zu lassen ist, es sein zu lassen. Lassen Sie es passieren. Wir definieren selbst, was wir als Scheitern verstehen. Nur, weil etwas nicht aufgeht wie geplant, heißt das nicht, dass man versagt hat. Scheitern ist keine Wand, gegen die wir fahren. Es ist eine Weiche, die uns mal mehr, mal weniger behutsam in die richtige Richtung lenkt. Wenn wir uns nicht manchmal selbst überschätzen würden, wären unsere Vorfahren in der Steinzeit in ihren Höhlen verhungert und Dritte Wahl wäre nie bei mir zuhause aufgetreten.«

Auf so viel Optimismus war ich nicht vorbereitet. Geknickt moderierte ich das Gespräch ab und betete hölzern meine üblichen Abschiedsfloskeln herunter: »…vielen Dank, wir hören voneinander…melde mich, wenn ich so weit bin…« Da brach es aus mir heraus. Ich gestand, dass ich nicht absehen könne, wann und ob ich das Gespräch überhaupt verwenden würde. Ich gab zu, dass ich an diesem Text schon so lang herumdokterte, dass ich ihn nicht mehr sehen konnte. Brauer lächelte erneut, diesmal noch entwaffnender, und berlinerte jetzt, wo der offizielle Teil vorbei war: »Aber dat is doch ‘ne richtig jute Idee. Erzählen Se doch einfach, wie dieser Text entstanden is‘. Dat is‘ Ihre Geschichte vom Scheitern. Und die Leute sehen endlich, dass nich‘ alles immer so glatt läuft, wie‘s aussieht.«

Ich bedankte mich artig, im Kopf Brauers Vorschlag schon verwerfend, da sagte er noch: »Warten Sie mal, ich hab‘ noch was für Sie« und schickte einen Link in den Chat des Videotelefonats, bevor er mir augenzwinkernd einen schönen Tag und viel Erfolg wünschte. Unwillig klickte ich auf seinen Link und landete auf Spotify, bei einem Song von Dritte Wahl. Der Track trug den Titel ‚Unschreibbar‘ und dauerte nicht einmal eine Minute. Nach einem wütenden Gitarrensolo brüllte der Sänger mindestens genauso wütend los:

Das Lied, das sich nicht schreiben lassen wollte
Das summe ich nun leise vor mich hin
Es hatte sich verkrochen, es hatte sich versteckt
Es hatte sich vergraben in dem letzten Winkel von meinem Gehirn

Doch es fühlte sich zu sicher, hat den Kopf herausgesteckt
Nur einen winzigen Moment, doch dabei hab‘ ich es entdeckt

Der Song wurde schneller, das Schlagzeug lauter und der Sänger hob an zum Finale:

Und ich hab‘ es an den Ohren herausgezogen
Es wehrte sich noch kurz, hat sich gewunden und gebogen
Doch es half ihm kein Weh und kein Ach
Nach einem kurzen Kampf da gab es endlich nach
Und nun summe ich ganz leis' in mich hinein
Es ist schön der Gewinner zu sein

Das war’s. Kay Brauer hatte mir einen Song geschickt, in dem Dritte Wahl davon erzählt, an einem Songtext zu scheitern. Plötzlich wusste ich, was mich als Kind an meinem neuen Kissenbezug so gestört hatte: Ich war frustriert gewesen, weil es nicht so lief, wie ich wollte. Damals lernte ich unfreiwillig, dass auch andere Bettbezüge gemütlich sein können. Und warum mich Brauers positive Einstellung zur Selbstüberschätzung so auf die Palme gebracht hatte, verstand ich jetzt auch: Er hatte mir gezeigt, was ich die ganze Zeit falsch machte.

Brauer sagte das Gegenteil davon, was ich hören wollte. Das fühlte sich an, als würde er sich mit dem widerspenstigen Text gegen mich verbünden. Und irgendwie tat er das auch. Aber nur, um mir zu zeigen, dass gar nicht viel nötig war, um diesen Text zu retten. Ich musste mich nicht vom Scheitern verabschieden, sondern damit aufhören, mich gescheitert zu fühlen, wenn etwas nicht so lief wie geplant. Ich bin an diesem Text verzweifelt, weil ich über etwas schrieb, das ich nicht verstand. Wäre ich nicht gescheitert, wüsste ich das aber bis heute nicht.

Mit Kay Brauers Worten im Ohr löschte ich meinen ursprünglichen Text ein letztes Mal. Diesmal fühlte es sich anders an. Ich fuhr nicht mehr gegen eine Wand in meinem Kopf, sondern in eine neue Richtung. So begann ich nochmal von vorn. Schließlich hatte ich viel zu erzählen. Von einem vermeintlichen Vertikutierer, einem außertourlichen Punkrock-Konzert und einem Text, der schon so oft im Papierkorb lag, dass ich aufgehört habe zu zählen.